Ralph Netzker

Der Renten-Krieg


Teil 1: Warum die umlagefinanzierte Rente weg muss - koste es, was es wolle...

Dass in sozialpolitischen Auseinandersetzungen mit harten Bandagen gekämpft wird, ist nichts neues. Was sich allerdings in der Debatte über die gesetzliche Rentenversicherung abspielt, ist ohne Beispiel. Den Startschuss hat vor einigen Jahren Prof. Dr. Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, gegeben, als er in Rundfunkinterviews und Zeitungsartikeln eindringlichst davor warnte, noch irgendwelche Hoffnungen in die gesetzliche Rentenversicherung zu setzen. Er hat damit einen Generationenkrieg ausgerufen, der in seinen Auswirkungen noch gar nicht abzuschätzen ist.

Die gesetzliche Rentenversicherung wird in der öffentlichen Diskussion häufig als eine Art "Sparkonto" dargestellt, auf das man Einzahlungen für seine eigene Rente tätigt. Diese Darstellung ist in der Sache falsch, und in der Absicht irreführend: Die eingezahlten Beiträge liegen nicht auf einem Konto, wo sie sich "verzinsen" könnten - und müssten! Ganz im Gegenteil ist es so, dass die jeweils erwerbstätigen Generationen die Renten der nicht mehr erwerbstätigen Generation direkt bezahlen - dies bezeichnet man als Umlagefinanzierung oder "Generationenvertrag". Diese Art der Finanzierung hat eine Reihe von Vorteilen, die in der Rentendebatte immer und absichtlich unter den Tisch fallen:

Träger der gesetzliche Rentenversicherung sind die Bundes- und Landes-Versicherungsanstalten. Bei diesen handelt es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts mit dem Recht auf Selbstverwaltung. Zusammengefasst sind sie im VDR (Verband deutscher Rentenversicherungsträger). Die Organe der Selbstverwaltung sind Vertreterversammlung und Vorstand, die je zur Hälfte aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber bestehen. Es handelt sich bei den Versicherungsanstalten also um demokratische, paritätisch besetzte Organisationen. Die alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen ermöglichen den Versicherten die Mitbestimmung über Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Versicherungsträger. Darüber hinaus regeln Regierung und Parlament die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Rentenkassen. Regierung und Parlament stehen alle vier Jahre zur Wahl, zwischendurch werden die Landesparlamente gewählt - Wählerbetrug hat also kurze Beine...

Gehen wir recht in der Annahme, dass Sie auch alle sechs bzw. vier Jahre den Vorstand und die Leitungsgremien der Deutschen Bank und der Allianz-Versicherung wählen, dass Sie somit eine paritätische Mitbestimmung über die Arbeit dieser Organisationen ausüben? Nein? Im Kern wissen Sie jetzt bereits, warum der erwähnte Chefökonom alle Hebel in Bewegung setzt, um die gesetzliche Rentenversicherung madig zu machen: Demokratische Selbstverwaltung und Arbeitnehmer-Mitbestimmung verabscheuen die Herren nämlich wie der Teufel das Weihwasser.

Die Vorreiter der privaten, kapitalbasierten Rente sind, wie bereits erwähnt, die Deutsche Bank und seit einiger Zeit die Investmenthäuser Merrill Lynch und Morgan Stanley. Da man davon ausgehen kann, dass die leitenden Angestellten dieser Bankhäuser weder auf eine gesetzliche noch eine private Rentenversicherung angewiesen sind, hat ihr Vorstoß sicher nichts mit persönlichen Zukunftsängsten zu tun. Man versetze sich einmal in die Lage dieser Herren: Pro Tag verschieben die gesetzlichen Rentenkassen etwas über eine Milliarde Mark von der heute erwerbstätigen Generation zu der nicht mehr erwerbstätigen - und Merrill Lynch, Morgan Stanley und die Deutsche Bank verdienen daran keinen roten Heller! Der bereits zweimal erwähnte Chefökonom knirscht nachts mit den Zähnen und kaut tags an den Fingernägeln, weil er an diese Gelder einfach nicht herankommt...

Was man damit machen könnte! Statt das Geld im Umlageverfahren einfach nur umzuschichten, könnte man es als Kapital anlegen und in Zukunft einfach von den Zinsen leben... Natürlich müsste es dazu erst eine Zeit lang festliegen, um tüchtig zu "arbeiten".

Merke: Geld arbeitet im Liegen.

In der Zwischenzeit zahlen die Erwerbstätigen halt doppelt, was soll's...

Dummerweise ist das mit der "Verzinsung" aber gar nicht so einfach: In der produktiven Wirtschaft gibt es für derartige Summen gar keine profitablen Anlagemöglichkeiten mehr. Die größeren Unternehmen zahlen ihre Investitionen seit Jahren aus dem cash flow, d.h. den laufenden Einnahmen - Bankkredite benötigen sie nicht. Was übrig bleibt, wird zum Aufkauf der Konkurrenz verwendet. Kleinere Unternehmen erwirtschaften häufig nicht die erwünschten Renditen und kommen daher als Anlage nicht in Frage. Die Banken können die Verzinsung derartiger Summen auf dem Wege der Kreditvergabe also gar nicht mehr garantieren.

Dann eben ab mit dem Geld auf den Aktienmarkt - da kommt richtig Freude auf! Fragt sich nur bei wem...

Die Aktienkurse sind in den letzten Jahren nicht etwa explodiert, weil die Unternehmen so viel an Wert zugelegt haben. Der Kursanstieg kam zustande durch das Prinzip von Angebot und Nachfrage: Viel Geld wollte noch mehr Geld werden und kaufte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Selbst Aktien von Unternehmen, die noch keine müde Mark verdient haben - darunter viele Internet-Anbieter - die also nur von ihren Schulden leben, gehen an den Börsen weg wie warme Semmeln. Wenn zu viel Geld auf zu wenige Anlagemöglichkeiten trifft, dann steigen die Preise der Aktien, nicht jedoch ihr Wert - der ist auf ewig an die reale Wertschöpfung der Unternehmen gebunden. Es leuchtet somit ein, dass die zusätzlichen Mittel aus privaten Rentenfonds in dieser Situation gerade noch gefehlt haben: Allein der Versuch, diese Gelder auf dem Finanzmarkt zu plazieren, würde die ohnehin weit überhöhten Aktienkurse in neue, noch irrealere Höhen treiben. Die mühsam erarbeiteten Einkommen der Arbeitnehmer würden auf diese Weise in Spielgeld umgewandelt, und allen Risiken und Gefahren der internationalen Finanzmärkte unterworfen werden. Das ist natürlich Wahnsinn, hat jedoch Methode. Hierzu Jörg Huffschmid, Professor für Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik, Universität Bremen:

"... vor allem bemühen sich die Investmentbanken um die Erschließung der großen neuen Vermögenspools, die durch eine Umstellung der Alterssicherung vom umlagefinanzierten Solidarsystem zum Kapitaldeckungsverfahren entstehen. (...) Als potentielle zukünftige Fondsverwalter gehören die Banken zu den entschiedenen Befürwortern einer solchen Rentenumstellung. (...) Die Einrichtung der Pensionsfonds löst kein einziges Finanzierungsproblem besser als das aktuelle Umlagesystem. Es bedient jedoch die Banken in ganz besonderer Weise."
(Jörg Huffschmid, "Politische Ökonomie der Finanzmärkte", VSA-Verlag, Hamburg, S. 81)

Die Behauptung, dass in der gegenwärtigen Form unsere Renten "nicht sicher" und "nicht finanzierbar" seien, wird durch ihre gebetsmühlenhafte Wiederholung nicht wahrer:

Eine private zusätzliche Alterssicherung ist auch heute schon für jeden möglich, der sie sich leisten kann und will. Ist jedoch das auf Generationen angelegte Solidarsystem Rentenversicherung einmal bleibend beschädigt, dann ist seine Wiedererrichtung teuer und schwierig. Bleibend beschädigt kann es jedoch nur werden durch einen um sich greifenden Vertrauensverlust - und genau dieser Vertrauensverlust wird von Finanz- und Wirtschaftsführern seit Jahren mit steigendem Erfolg herbeigeredet.

Dass für die zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung einige Änderungen und Erweiterungen notwendig sind, werden wir in Kürze ausführen - allerdings ganz anders, als unser Chefökonom sich das vorstellt.


Teil 2: Der Trick mit den Lohn"neben"kosten

Eines der ersten Resultate des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" war die Zustimmung der Gewerkschaftsvertreter, auf eine Senkung der sogenannten "Lohnnebenkosten" hinzuwirken. Das war eine Falle, und bis heute hat es anscheinend keiner unserer "Kollegen mit Schlips" bemerkt. Es gibt nämlich keine Lohn"neben"kosten - es gibt nur "Lohnkosten" - und die setzen sich für einen Alleinstehenden mit 3.000 DM Netto-Verdienst etwa folgendermaßen zusammen:


                Arbeitnehmer-Anteil   Arbeitgeber-Anteil
Brutto                        5.508   5.508
Krankenversicherung             374     374
Rentenversicherung              537     537
Arbeitslosenversicherung        179     179
Pflegeversicherung               74      19
Lohnsteuer                    1.343
Netto                         3.000
Lohn"neben"kosten                     1.109
Lohnkosten                            6.617

Was will uns diese Aufstellung sagen? Die gesamten Lohnkosten (DM 6.617) setzen sich zusammen aus:

Dieser Arbeitgeber-Anteil wird nun in der öffentlichen Diskussion vorsätzlich irreführend als Lohn"neben"kosten bezeichnet - so, als handle es sich dabei um eine lästige Nebensächlichkeit, an der niemandem wirklich etwas liegen könnte...

Schließlich - so geht das propagandistische Kalkül - sieht der Arbeitnehmer ohnehin nur seinen Nettolohn (DM 3.000), alles andere sind Abzüge (igitt...) oder eben "Nebenkosten", die alles in allem möglichst gering auszufallen haben. Würden also alle Sozialversicherungs-Beiträge und die Lohnsteuer reduziert (am besten auf Null), so stiege bei gleichem Brutto-Entgelt das Netto-Einkommen des Arbeitnehmers (super!), während sich gleichzeitig die Lohnkosten reduzierten: ein betriebswirtschaftliches perpetuum mobile, ein finanzmathematisches Bravourstück, einfach genial - was wären wir ohne unsere Wirtschafts-Experten? Das unmittelbare Resultat wäre:

Sämtliche Resultate wirken also in dieselbe Richtung: belebend, aktivierend, die Eigeninitiative stärkend! Hier haben wir endlich die geistig-moralische Wende, die eine versumpfte christliberale Regierung nicht mehr zu Ende bringen konnte. Neue Besen kehren gut, und die Schröder-Regierung ist ein rechter Reisigbesen...

Und nun wissen wir auch, warum der "Sozialstaat" plötzlich "unbezahlbar" geworden ist, warum die gesetzliche Rentenversicherung einer privaten Altersvorsorge weichen soll:

537 Mark Arbeitgeber-Anteil bei 5.500 Mark Bruttoverdienst sind ein starkes Argument für eine private Alterssicherung. Und weil 374 Mark Krankenversicherungs-Anteil ebenfalls furchtbar wehtun, jagt eine "Gesundheitsreform" die andere, und hat man heutzutage die Wahl zwischen Urlaub und Zahnersatz. Dass es so etwas wie "Kuren" einmal gab, glaubt einem in zehn Jahren kein Mensch mehr...

Es geht also bei all diesen "Reformen" (Gesundheitsreform, Rentenreform etc.) um nichts anderes, als um eine Politik der Umverteilung von unten nach oben, von abhängig Beschäftigten zu Vermögens- und Kapitaleignern. Das Geld, mit dem der "Sozialstaat" der 60er- und 70er-Jahre finanziert worden war, ist nicht etwa verschwunden, es ist lediglich dort angelangt, wo es immer schon hingehörte: bei den Reichen und Mächtigen unserer Gesellschaft - und was noch nicht dort ist, wird gegenwärtig mit wachsender Brutalität umverteilt. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses wird eine Gesellschaft stehen, die wieder die klare Trennung zwischen Besitzenden und Besitzlosen aufweisen wird, die für unsere eigene Vergangenheit und die Gegenwart aller anderen Regionen der Welt kennzeichnend war und ist. Es wird wieder Ordnung herrschen und klare Verhältnisse. Die Illusion von Gleichheit und Brüderlichkeit, von Demokratie und Sozialpartnerschaft wird wieder als das erscheinen, was sie immer war: eine Illusion eben.

Wie konnte es dazu kommen? Und warum gerade jetzt?

Bereits seit Ende der 70er-Jahre machte sich ein Effekt bemerkbar, den Politiker und Wirtschaftsbosse zwar unter keinen Umständen wahrhaben wollen, der sich um derlei Ignoranz aber keinen Deut schert. Im Zuge der Dritten industriellen Revolution, d.h. der Verdrängung auch qualifizierter menschlicher Arbeitskraft durch Datenverarbeitung und Informations-Technologie, trat ein Phänomen wieder in Erscheinung, das man für einige Jahrzehnte (Wirtschaftswunder!) so gut wie vergessen hatte, das aber immer unter der Oberfläche der Marktwirtschaft präsent ist: Massenarbeitslosigkeit aufgrund "struktureller Überakkumulation". Im Unterschied zu den "goldenen Jahrzehnten" nach dem zweiten Weltkrieg ist festzustellen:

Diese - als "strukturelle Überakkumulation" bezeichnete - Entwicklung, die als genereller Trend in allen westlichen Industrieländern zu beobachten ist, bedeutet:
Die weltweit in praktisch allen Branchen bestehenden Überkapazitäten zwingen die Unternehmen zu immer weiteren Rationalisierungsinvestitionen, die - ohne ein entsprechendes Wachstum, das in dieser Höhe völlig utopisch bleiben muss - zu weiterer Vernichtung von Arbeitsplätzen führen müssen. Die unvermeidliche Folge heißt: dauerhafte und steigende Massenarbeitslosigkeit.
Und dies ist schließlich der tiefere Grund für den seit nunmehr zwanzig Jahren anhaltenden Abbau des Sozialstaates: In einer "sozialen Marktwirtschaft" kann "soziale Sicherheit" nur so lange gewährleistet werden, wie das "soziale Netz" durch den Aufwind einer beschleunigten Kapitalakkumulation in der Schwebe gehalten wird, ohne dass allzuviele Modernisierungsverlierer in seine Tiefen fallen. Sobald das Netz gebraucht wird, ist es auch sofort überfordert: Die abhängig Beschäftigten und Nichtmehr-Beschäftigten bezahlen die Zeche für das Unvermögen der Marktwirtschaft, ihre steigende Produktivität statt in Arbeitslosigkeit in Wohlstand und Sicherheit für alle umzusetzen.

Um die Arbeitgeber schließlich doch noch zu bewegen, Arbeitskräfte zu beschäftigen, die sie nicht mehr brauchen und nie mehr brauchen werden, verspricht man ihnen, im Rahmen des Bündnisses für Arbeit etc., über eine Senkung der Lohn"neben"kosten einen Teil ihrer Aufwendungen zu reduzieren, was diese natürlich gerne mitnehmen - ohne deshalb ihre Rationalisierungsinvestitionen einzustellen. Das ließe der Verdrängungs-Wettbewerb auch gar nicht zu. Auf diese Art und Weise wird der Sozialstaat dem Erdboden gleichgemacht, ohne deshalb Arbeitsplätze zu erhalten. "Rentenreform" und "Bündnis" haben das gemeinsame Ziel, über eine Senkung der Lohnkosten die Krise der Marktwirtschaft auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmervertreter ziehen dabei am selben Strang in die selbe Richtung: beste Voraussetzungen für eine zügige Umsetzung...


Teil 3: Der "demographische Faktor"

Sowohl bei der angestrebten Umstellung der gesetzlichen Rentenversicherung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsprinzip (siehe Teil 1) als auch bei der Debatte über die Senkung der Lohn"neben"kosten (Teil 2) wird von Seiten der "Reformer" ein wahres Killerargument in Stellung gebracht: Die fortschreitende "Überalterung" unserer Gesellschaft mache es notwendig, in Zukunft entweder

Da ersteres durchaus angestrebt wird, aber vorher eine Reform des Wahlrechts ("kein Wahlrecht für Bezieher von Sozialleistungen") durchgeführt werden müsste - letzteres aufgrund der paritätischen Gestaltung der Rentenversicherung (der Arbeitgeberanteil würde ebenfalls steigen) natürlich unmöglich ist - wird als vorgeblicher Ausweg aus dem Dilemma der Einstieg in eine private kapitalgedeckte Alterssicherung aus dem Hut gezogen.

Ob "Vergreisungszuschlag" oder "Vorsorgefaktor": Die der gegenwärtigen Debatte zugrundeliegende These, die "Überalterung" der Gesellschaft würde eine Abkehr von der beitragsfinanzierten Alterssicherung erzwingen, ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch:

Aus allen genannten Punkten kann nur der Schluss gezogen werden, dass es keinen demographischen Wandel gibt, der den Übergang zu einer kapitalgedeckten Alterssicherung erzwingen würde. Nötig wäre vielmehr der Abbau der Arbeitslosigkeit, um das bestehende (!) Erwerbspersonenpotential auszulasten, sowie die Einbeziehung sämtlicher (!!) Einkommensbezieher in die Rentenfinanzierung.


Allerdings verdient das Argument mit dem demographischen Wandel noch eine etwas gründlichere Behandlung. Bis ins 19. Jahrhundert war die Landwirtschaft der eindeutig dominierende Teil der Volkswirtschaft. Um das Jahr 1800 waren in Westeuropa etwa 75% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Diese Quote sank - infolge der Erhöhung der Produktivität - auf heute gerade noch 2,5 bis 3%. Musste also im Jahre 1800 ein in der Landwirtschaft Beschäftigter noch 1,33 Personen ernähren, so sind es heute deren 40 - eine Erhöhung der Produktivität um den Faktor 30. Gerechnet auf 200 Jahre entspricht dies einer jährlichen Produktivitätssteigerung von gerade mal 1,7%. Nichtsdestoweniger hätte im Jahre 1800 jeder behauptet, dass 3 Beschäftigte niemals die Ernährung von 100 Personen sicherstellen können.

Was hat nun diese Betrachtung mit dem demographischen Wandel zu tun? Im Jahre 1995 betrug das Verhältnis der über 65-jährigen zur erwerbsfähigen Bevölkerung der 20- bis 64-jährigen (Altenquotient) genau 24,7%. Bei Anhalten aller gegenwärtigen Trends dürfte sich dieses Verhältnis bis zum Jahre 2030 auf 47,7% erhöhen. Etwas anschaulicher ausgedrückt: 1995 kamen auf 100 Erwerbsfähige 31 Rentner - 2030 werden es voraussichtlich 91 Rentner sein. Auf den ersten Blick eine besorgniserregende Zahl.

Aber nur auf den ersten Blick:

Um in 35 Jahren diesen Anstieg nur über die Produktivitätssteigerung - also ohne Zuwanderung - aufzufangen, bedarf es eines jährlichen Zuwachses von 2,9%. Sollte es gelingen, in diesem Zeitraum zusätzlich die Arbeitslosigkeit (10,6%) abzubauen, fällt der erforderliche Produktivitätszuwachs entsprechend geringer aus: 2,6%.

Was bei allem Raisonnement über "demographischen Wandel" und "Überalterung" immer unberücksichtigt bleibt, ist somit das Thema "Arbeitsproduktivität". Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist eines der "süßen Geheimnisse" unserer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktionsweise. Seitens der Begünstigten dieser Produktionsweise besteht keinerlei Interesse, dieses Thema öffentlich zu erörtern. Arbeitsproduktivität ist definiert als das Verhältnis der produzierten Gebrauchsgüter und Dienstleistungen zu der hierfür erforderlichen durchschnittlichen Arbeitszeit: (G+D)/A. Infolge des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts nimmt die Produktivität der Arbeit ständig zu:

Eine Arbeitslosenzahl von 3,9 Millionen (Juli 2000 - ohne Dunkelziffer) allein in Deutschland bedeutet daher, dass die Produktivität bereits heute um mehr als 11% zu hoch liegt, um auch nur alle verfügbaren (!) Arbeitskräfte in die Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen einzubeziehen. Um hier wieder einen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, müsste entweder die Arbeitszeit sofort um mindestens 11% reduziert werden - bei vollem Lohnausgleich, versteht sich - oder die Produktion um den selben Betrag erhöht werden - bei entsprechender Anpassung der Massenkaufkraft. Entsprechende Anpassung der Massenkaufkraft hieße eine Erhöhung aller Einkommen - also auch und vor allem der Sozialleistungen - um eben diese 11%, um die erhöhte Produktion auch tatsächlich der Konsumtion zuzuführen. Im ersten Fall - sofortige Arbeitszeitverkürzung - träte die Entlastung der Sozialhaushalte über die Reduzierung der Transferausgaben (Arbeitslosengeld und -hilfe, Sozialhilfe) ein; im zweiten Fall - sofortige Erhöhung der Massenkaufkraft - würden sich die Einnahmen drastisch erhöhen. In beiden Fällen wäre die Bezahlbarkeit der Sozialversicherung auf absehbare Zeit kein Thema mehr.

Dass es dazu nicht kommen wird, ist klar: Der erforderliche Ausgleich von gesellschaftlicher Produktion und Konsumtion würde bedeuten, dass Arbeitnehmer und Empfänger von Sozialleistungen tatsächlich den ihnen zustehenden Anteil am Wirtschaftsergebnis erhalten müssten: Produktivitätszuwachs plus Teuerungsrate - eine Umverteilung von oben nach unten wäre hierbei noch nicht einmal berücksichtigt. Es wird deshalb nicht dazu kommen, weil die Arbeitgeber und Kapitaleigner auf einem Zuwachs der Massenkaufkraft unterhalb des Produktivitätszuwachses bestehen - und damit auf einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Und deshalb - und nur deshalb - werden auch die Angriffe auf die umlagefinanzierte Rentenversicherung weitergeführt werden: Für das Kapital ist jede Mark für Arbeitslose, Kranke und Rentner eine Mark zuviel - daran wird sich nichts ändern...