Der deutsche Neidmichel

In der Wirtschaftswoche vom 26.2.1998 schrieb ein Bernd Ziesemer

"über die selbstzerstörerischen Folgen der ewigen Mißgunst und dauernden Miesmacherei in Deutschland".


Ich muss gestehen, dass ich noch nie im Leben die Wirtschaftswoche aufgeschlagen habe. Als ich jedoch das Titelbild dieser Ausgabe sah, nahm meine Neugier überhand. Der Titel zeigte ein grellgrünes, bizarr verzerrtes, schreiendes Gesicht. Hier schien irgendjemand ein Problem zu haben: entweder die Gestalt auf dem Titelbild oder die Leser dieses Blattes. Grund genug also für mich, lebenslange Animositäten beiseite zu legen.

Und in der Tat, Herr Ziesemer ist ernsthaft besorgt: Ein Gespenst geht um in Deutschland - das Gespenst des Sozialneids.

"Der Neid zerstört unsere wirtschaftliche Zukunft ... Wer in Deutschland ein Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen will, wird durch das allgemeine Neidklima eingeschüchtert und abgeschreckt."

Oha, durchfährt es da den überraschten Leser, sollte dies etwa der Grund für die 5 Millionen Arbeitslosen sein, die sich so nachhaltig weigern, halbiert zu werden? Das Interesse ist also geweckt, und man liest den Artikel von der ersten bis zur letzten Zeile.

Ziesemer entfaltet ein Sittenbild der erschreckenden Art: Während im Rest der zivilisierten Welt die Leistungsträger und Führungskräfte der Wirtschaft (von den Inhabern ganz zu schweigen) die Früchte ihrer Mühen ungeniert und sorglos in aller Öffentlichkeit genießen können - allein in Zürich sieht man mehr Rolls-Royces und Bentleys als im ganzen Bundesgebiet - traut man sich in Deutschland kaum, seine S-Klasse zu zeigen. Wer für eine Armbanduhr soviel ausgibt, wie eine vierköpfige Familie in drei Jahren zum Leben braucht, kann das edle Teil nicht etwa stolz jedem unter die Nase halten - er muss es vielmehr schamhaft verstecken. Und nicht nur das, auch das Geldverdienen selbst geht hierzulande nicht so recht von der Hand:

"Die deutschen Kollegen überschlagen sich vor Neid über die Millionengehälter der britischen Investmentbanker."

Der Befund ist eindeutig: Die deutsche Neidhammel-Gesellschaft verkennt vollständig die überragende Bedeutung ihrer Leistungs- und Besitzeliten. Wie sonst könnten ein hauptamtlicher IG-Metall-Funktionär (!) und eine Journalistin auf den Vorschlag verfallen,

"vom Gehalt der acht (8) Bertelsmann-Vorstände lieber 459 ArbeitnehmerInnen zu bezahlen".

(Buchtip: Hartmut Meine / Dorothee Beck, Wasserprediger und Weintrinker, Steidl Verlag)

Das Problem ist hierbei nicht, dass ein Bertelsmann-Vorstand 57mal so viel verdienen muss wie ein normaler Arbeitnehmer - das versteht sich von selbst. Nein, dass man ihm das in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht gönnt, ist der wahre Skandal. Sieht denn niemand ein, dass ein Konzern wie Bertelsmann ganz einfach Vorstände braucht, Arbeitskräfte aber nur Kosten verursachen und daher eine Gefahr für den Fortbestand des Unternehmens darstellen? Und dann noch 459 davon!

Man sieht, es gibt so einiges an Fehlentwicklungen in der deutschen Gesellschaft. Und wer es noch nicht sieht, dem muss vielleicht ein Vergleich aus der jüngeren Geschichte auf die Sprünge helfen:

"Wie früher die Nazis, so reiten auch die heutigen Normalneider (man beachte die Alliteration, R.N.) gern auf dem angeblichen Unterschied zwischen 'schaffenden und raffenden' Kapitalisten herum".

Es ist klar, dass aus der Sicht Ziesemers nur die drastischsten Vergleiche den wahren Ernst der Lage verdeutlichen können. Und ganz nebenbei macht er klar, dass es in Wahrheit keinen substantiellen Unterschied zwischen "schaffenden und raffenden Kapitalisten" gibt - eine Erkenntnis, die die Leserschaft der Wirtschaftswoche kaum überraschen dürfte, für uns Normalneider aber einigen Nährwert besitzt.

Nichtsdestoweniger, man täte Ziesemer und der Wirtschaftswoche unrecht, wollte man ihnen eine einseitig interessengeleitete Sichtweise unterstellen - im Gegenteil, das wahre Anliegen ist ein geistig-moralisches:

"Übersteigerter Neid wird zum zerstörerischen Selbstläufer, produziert Haß und Selbsthaß."

Sind also die kollektiven, gesellschaftlichen Folgen schon schlimm genug, so wird es wahrhaft tragisch, wenn

"selbst ein mutiger Mensch wie der BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel zum Thema Neid 'gegenwärtig lieber nichts sagen will, um nicht noch eine Kontroverse in Deutschland loszutreten'".

Hier werden die wahren Helden unserer Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit verbogen und gedemütigt - pfui! Mit Entschlossenheit nähert sich Ziesemer daher dem Grund dieser erschreckenden Fehlentwicklungen:

"Die Gesellschaft der Gutmenschen hat die Kritik des Sozialneids zum Tabu erklärt."

Dass offensichtlich die Gesellschaft der Schlechtmenschen die Kritik unseres Wirtschaftssystems zum Tabu erklärt hat, soll uns jetzt nicht beschäftigen, geht es hier doch um nichts geringeres als unsere Zukunftsfähigkeit:

"Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt: Während der ökonomische Wandel in 'extrem neidischen' Gesellschaften wie Rußland ganz offensichtlich gebremst wird, erweisen sich vergleichsweise 'weniger neidische' Länder wie die Volksrepublik China als besser gewappnet für die Zukunft".

Sozialneid, soviel wird klar, gefährdet den Zusammenhalt und die Prosperität unseres Gemeinwesens:

"Wer mehr besitzt, als ich selbst, so lautet die neue Logik der Straße(!), ist automatisch mein Feind ... Wenn einige besser verdienen, so argumentieren nur allzu viele, 'müssen andere schlechter verdienen'. Reiche können nach dieser Lesart nur 'auf Kosten anderer' reich werden."

Derartige Ressentiments sind natürlich barer Unsinn. Was sich hier ausspricht, ist lediglich der ökonomische Unverstand des Mannes auf der Straße, der ein Nullsummenspiel unterstellt, wo in Wahrheit endlose Dynamik herrscht:

"Begreift man Wirtschaft dagegen als endlos (!) dynamischen Bereicherungsprozeß aller (!), dann kann jeder Reichere - wie in den weitgehend neidfreien USA - zum Vorbild werden".

Dass nun jeder gönnen soll, darf aber nicht dahingehend missverstandem werden, dass auch jeder wollen darf:

"Die 'Enthemmung der Eigentumseifersucht' setzt vielmehr eine 'Begehrensspirale' in Gang, so sagt der Philosoph Peter Sloterdijk zu Recht (!), die eines Tages einen Bürgerkrieg auslösen könnte".

Sloterdijk weiß, was sich gehört und sagt Bürgerkrieg statt Revolution; dass Philosophen meist auch die Hofnarren der gerade Herrschenden sind, ist ja nichts neues.

Wohin die von Sloterdijk beschriebene 'Begehrensspirale' im Extremfall führen kann, illustrieren auf erschreckende Art und Weise einige Beispiele:

"Wo jedermann von der Wiege bis zur Bahre bedenkenlos ermuntert wird, 'seine Rechte' vom Kindergartenplatz bis zur Vollbetreuung im Rentenalter einzuklagen, gehen offenbar alle Maßstäbe verloren. Vor kurzem erregten sich die meisten Medien und das halbe Land, weil eine Sozialhilfeempfängerin mit einem Kind keine neue Waschmaschine genehmigt bekommen hatte. Arbeitslose haben gesetzlichen Anspruch auf eine ungestörte Urlaubsreise, auch wenn ihnen während ihrer Abwesenheit ein Job angeboten (!) werden könnte (!!)."

Hier zeigt sich das fundamentale Missverständnis, dem das deutsche Gutmenschentum verfallen ist: Im Wirtschaftsleben geht es um endlose, dynamische Bereicherung, nicht um die Befriedigung banaler Lebensbedürfnisse. Jedermann muss doch einsehen, dass eine Sozialhilfeempfängerin mit nur einem Kind keine Waschmaschine braucht, kann sie doch, da sie ohnehin nichts anderes zu tun hat (Sozialhilfe!), die paar Lumpen auch von Hand waschen, wie ihre Großmutter selig. Und dass Langzeitarbeitslose immer dann einen Job angeboten bekommen, wenn sie gerade in der Karibik braten, ist allgemein bekannt.

Was also tun, gegen diese ewige Mißgunst und dauernde Miesmacherei in Deutschland?

"Wäre es nicht vielleicht doch an der Zeit, den Neid offen zu bekämpfen, statt sich vor den Neidern zu ducken? Wer hätte heute in Deutschland noch den Mut mit Montesquieu frech zu sagen: 'Wenn die Reichen nicht viel verschwenden, werden die Armen verhungern'?"

"Einige Linke verklären" den Sozialneid "vorschnell zum 'gerechten Zorn' über wachsende Arbeitslosigkeit und Armut. Was hätte wohl ihr geistiger Mentor, der Champagner-Trinker und Havanna-Raucher Karl Marx zu solchen Wallungen des 'rohen Kommunismus' gesagt? In Wahrheit wird umgekehrt ein Schuh daraus:"

Nur wenn die Reichen endlos dynamisch raffen und prassen können, besteht wenigstens ein Hauch von Hoffnung, dass zu guter Letzt doch noch etwas unter den Tisch fällt, worum sich der Pöbel dann streiten und raufen kann.


Atmen wir kurz durch, nachdem sich die Suada des Herrn Ziesemer über uns ergossen hat...

Ich kann die Besorgnis, die aus seinen Worten spricht, gut verstehen - aber ich glaube nicht, dass er sich wirklich solche Sorgen machen muss. Herr Ziesemer hat die spezielle Art des deutschen Sozialneids noch gar nicht recht verstanden, er verkennt völlig das Neidniveau der Deutschen. Der deutsche Normalneider neidet nicht dem Multimilliardär seine Milliarden, nicht dem Kapitalisten sein Kapital: Dass es Multimilliardäre geben könnte - namentlich in Deutschland - kann und will sich der deutsche Normalneider gar nicht vorstellen, und das Wort "Kapitalist" kennt ein anständiger Deutscher nicht einmal. Er neidet auch nicht dem Vorstandsvorsitzenden seine 1,5 oder 2,4 Millionen Jahresgehalt - darüber macht er sich überhaupt keine Gedanken.

Ein rechter Deutscher ist davon überzeugt, dass Sozialhilfeempfänger leben wie Gott in Frankreich und neidet ihnen daher ihre Sozialhilfe. Er ist davon überzeugt, dass Arbeitslosigkeit ungestörter bezahlter Urlaub ist (siehe oben!) und neidet daher dem Arbeitslosen sein Arbeitslosengeld. Den Studenten neidet er ihr BAföG, weil die gefälligst studieren sollen statt immer nur zu demonstrieren und zu vögeln. Und auch den Rentnern neidet er eigentlich ihre Rente - aber das traut er sich nicht so deutlich zu sagen, schließlich wird er ja selbst einmal alt...

Mit anderen Worten: Ein rechter Deutscher neidet immer von oben nach unten; er gönnt denen nichts, die ohnehin weniger haben als er.

Warum neidet er aber den Beamten ihre Pension und den Politikern ihre Diäten, die bestenfalls einen Bruchteil dessen ausmachen, was jeder Manager und Mittelständler einstreicht?

Auch dafür gibt es eine Erklärung: Ein rechter Deutscher lebt innerlich noch immer in einem Obrigkeitsstaat, er hat die Obrigkeit verinnerlicht. Dass Beamte Dienstleister (Staatsdiener!) sind, die er sich von seinen Steuern leistet, um die Vorteile eines demokratischen Staatswesens zu genießen, kann und will er nicht verstehen. Der Gedanke, dass Politiker von ihm gewählt und abgeordnet sind, um in seinem Namen das Gemeinschaftsunternehmen Staat zu organisieren, ja dass es ihm freisteht, sich jederzeit selbst wählen und abordnen zu lassen, ist ihm völlig fremd. Selbst sechzehn Jahre Kohl können ihn nicht über den Verlust von Kaiser, Generalfeldmarschall und Führer hinwegtrösten. Dass ihn die Alliierten nach 1945 zur Demokratie verdonnert haben, beantwortet er mit infantilem Trotz: Vor einem Kaiser würde er kuschen, von ihm selbst gewählte Volksvertreter verachtet er nur.

Daher mein (zugegebenermaßen etwas undeutscher) Appell an Herrn Ziesemer und seine reichen Freunde: Cheer up, old buggers, don't worry, be happy!

Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen: Der deutsche Michel hat seine Zipfelmütze tief über Augen und Ohren gezogen, er sieht euch nicht, er hört euch nicht, ihr habt von ihm nichts zu befürchten.


Last Modified : 11.03.98

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