Die Anfänge der Geschichte der Demokratie sind verbunden mit dem Entstehen der griechischen Polis (Stadtstaaten). In diesen städtischen Gemeinschaften entwickelte sich eine Bürgerschaft (Demos), die alle Freien als politische Gleichberechtigte umfasste. Die ersten demokratischen Prinzipien sind laut Aristoteles ("Der Staat der Athener") in der Zeit des Solon (ca. 590 v. Chr.) zu erkennen - dessen Verfassung nennt Aristoteles "demokratisch". Wie so oft in der Geschichte wurden die von Solon praktizierten sozialen Reformen durch den Druck von unten erwirkt - Leibeigene und Kleinbauern lehnten sich immer wieder gegen Großgrundbesitzer auf, so dass eine Revolte befürchtet werden musste. Um dies zu verhindern, ging der Archont (oberster Beamter) Solon Kompromisse ein:
Aufhebung aller Schuldlasten auf die eigene Person: rechtliche Befreiung aus der Zinsknechtschaft (teils wieder rückgängig gemacht oder nicht real umgesetzt)
Klassenwahlrecht nach Besteuerung
Annähernde Gleichberechtigung der Armen vor dem Gesetz
Berufungsmöglichkeit beim Volksgerichtshof, rechtliche Emanzipation der unteren Klassen, zumindest auf formeller Ebene
Trotz dieser Reformen Solons herrschte jedoch in der Bevölkerung immer noch politische Ungleichheit, da die attische Bevölkerung hierarchisch in vier Steuerklassen gegliedert war; diese Klassen konnten zwar alle an der Volksversammlung (Ekklesia) teilnehmen, doch Anrecht auf politische Gleichberechtigung hatten nur die Besitzenden. Die Volksversammlung war also weiterhin von Aristokraten bestimmt. Politische Rechte und Ämter konnten nur Mitglieder der beiden höchsten Steuerklassen (also die Besitzenden) erlangen. Darüber hinaus existierte weiterhin das Zensuswahlrecht (Wahlrecht nach Vermögensschätzung).
Der Begriff für eine solche Staatsform in der modernen Politologie lautet Timokratie (Staatsaufbau nach dem Vermögen der Bürger, Herrschaft der Begüterten). Es liegt keine einheitliche und geschlossene demokratische Verfassung vor, die Privilegien der Oberschichten werden nicht angetastet. Aristoteles nennt diese Staatsform jedoch Demokratie und begründet dies mit Solons Zielsetzung, nämlich der Aufhebung der traditionellen attischen Zinsknechtschaft.
"An der Verfassung Solons scheinen die drei folgenden Stücke am meisten demokratisch zu sein:
dass man bei Anleihen nicht mehr seine Person verpfänden darf,
dass jeder beliebige sich für einen, der Unrecht leidet, einsetzen darf,
und das dritte, das, wie man sagt, die Macht der Menge am meisten gestärkt hat:
das Recht, an das Volksgericht zu appellieren.
Da ist das Volk Herr in den Abstimmungen, und so wird es auch Herr über den Staat. Außerdem waren viele Gesetze, wie die über die Erbanteile und die Erbtöchter, kompliziert und unklar abgefasst, so dass es notwendigerweise zu vielen Prozessen kommen musste und die Gerichtshöfe über alle öffentlichen und privaten Angelegenheiten zu entscheiden hatten.
Dies sind also die demokratischen Züge an den Gesetzen Solons. Vor der Gesetzgebung hatte er die Schuldentilgung (seisachtheia) durchgeführt, und nach ihr folgte die Reform der Maße, Gewichte und des Geldes.
Den Rat setzte er aus 400 Mitgliedern zusammen, 100 für jede gentilizische Phyle (durch Geburt und Abstammung bestimmter Stammesverband). Dem Rat auf dem Areopag (Hügel westlich der Akropolis, Tagungsort und Name für den Rat zugleich) übergab er die Überwachung der Gesetze. Dieser blieb also wie früher die Aufsichtsbehörde über die Verfassung und behandelte die meisten und bedeutendsten Geschäfte und züchtigte die Gesetzesübertreter aus eigener Machtvollkommenheit mit Körperstrafen und Bußen. Die Bußgelder legte er in die Staatskasse, ohne anzugeben, weshalb die Buße bezahlt worden war. Der Areopag richtete auch über alle Verschwörungen zum Sturze der Demokratie, und Solon schuf ein eigenes Gesetz, das zur Anzeige solcher Verschwörungen verpflichtete.
Da er ferner sah, dass der Staat vielfach von Unruhen heimgesucht war und dass einige der Bürger aus Leichtsinn den Ausgang derselben dem Zufall überließen, so erließ er gegen solche ein besonderes Gesetz: Wer im Staate bei einem Parteistreit sich nicht mit den Waffen für die eine oder die andere Partei entscheidet, soll ehrlos und der politischen Rechte beraubt sein.
Die Gesetze wurden auf die bekannten Holztafeln geschrieben, in
der Königshalle aufgestellt, und alle schworen, sich an sie halten
zu wollen. Die neun Archonten schworen bei dem Steine (Gesetzestafeln
waren drehbar in eine Art Steinpyramide eingelassen) und erklärten
ein goldenes Standbild aufstellen zu wollen, wenn sie eines der
Gesetze verletzten. So schwören sie auch jetzt noch. Er setzte die
Gesetze auf 100 Jahre fest."
(Aristoteles, Staat der Athener,
7 ff., zit. nach: Otto Kampe, Die Attische Polis, Stuttgart 1979, S.
4 f.)
Kleisthenes reformierte um 508 v. Chr. die Verfassung Solons entscheidend und bildete Basis und Voraussetzung für die Demokratie-Theorien Platons und Aristoteles (siehe 2.). Er führte ein Mehrheitswahlrecht für das bisherige Stände- und Zensuswahlrecht ein, wobei die Klasseneinteilung jedoch bestehen blieb. Die freie attische Bevölkerung wurde in zehn Phylen (Verwaltungsbezirke) mit je drei Trittyen (Drittel, Regionen) und je zehn Demen (Gemeinden, kleinste Verwaltungseinheiten) eingeteilt; die dort eingetragenen Bürger - vom Grundherrn bis zum Bauern - hatten ein gleiches Stimmrecht für die Volksversammlung. So waren die Bürger frei und gleich, die unteren Schichten konnten sich auf dörflicher Ebene politisch betätigen; allerdings waren sie noch nicht in gleicher Weise wie die anderen Klassen wählbar. Ins zentrale politische, legislative Organ, den Rat der 500, konnten nämlich nur Vertreter aus den ersten drei Klassen gewählt werden; der Rat (mit vielen Aristokraten) bestimmte darüber, was Gesetz werden konnte, die Volksversammlung (mit vielen Kleineigentümern) hingegen entschied, ob etwas Gesetz wurde oder nicht.
Hierarchie des Staates unter Kleisthenes:
Neun Archonten (Oberbeamte)
Der Gerichtshof des Areopags
Richter
Zehn Strategen (Feldherren)
Rat der 500 (Senat)
Phylenbeamte (Bezirksbeamte)
Volksversammlung (Ekklesia)
Demenbeamte (Gemeindebeamte)
Kleisthenes führte darüber hinaus erstmals einen demokratischen Kontrollmechanismus ein, den sogenannten Ostrakismos. Dieses "Scherbengericht" sollte den Machtmissbrauch einflussreicher Persönlichkeiten durch eine zehnjährige Verbannung zu verhindern versuchen; dazu mussten mindestens 6.000 Mitglieder (!) der Volksversammlung über den Antrag auf Verbannung abstimmen, indem sie den Namen des zu Verbannenden auf eine Tonscherbe ritzten. Der Verbannte behielt aber sein Vermögen sowie alle seine Rechte und Ehren.
Doppelherrschaft des athenischen grundherrlichen Adels und der bürgerlichen Klassen, unter Miteinbeziehung der unteren Schichten.
Mit dem von drei Klassen gewählten Rat der 500 wurde die erste wirkliche Repräsentativverfassung begründet.
Gleichberechtigung beschränkte sich auf das aktive Wahlrecht und das Stimmrecht in der Volksversammlung und im Volksgericht.
Heute wird die kleisthenische Staatsform nicht direkt als Demokratie bezeichnet, sondern als Isonomie (Gleichheit vor dem Gesetz).
Aristoteles über die Reformen des Kleisthenes:
(Nach dem Sturz der Tyrannis 510 v.Chr. ging Kleisthenes - Angehöriger des recht einflussreichen attischen Adelshauses der Alkmeoniden - aus den Parteikämpfen rivalisierender Adelsgeschlechter mit Hilfe des Volkes als Sieger hervor; so konnte ein Auseinanderbrechen der Polis durch einen Bürgerkrieg verhindert werden.)
"Als Kleisthenes im vierten Jahr nach der Vertreibung der Tyrannen unter dem Archontat (Herrschaftsperiode) des Isagoras Vorsteher des Volkes geworden war, teilte er als erstes das ganze Volk in zehn Phylen (Stammesverbände) ein anstatt der bisherigen vier, da er beabsichtigte, sie (die Phylen) zu vermischen und mehr Leute an den Bürgerrechten teilhaben zu lassen. Daher pflegte man auch jenen, die sich nach der Abstammung der Bürger erkundigten, zu antworten, sie brauchten keine Unterschiede nach den Phylen zu machen. Außerdem erhöhte er die Zahl der Ratsmitglieder von vierhundert auf fünfhundert, je fünfzig aus jeder Phyle. (...) Das Land teilte er nach Demen (Gemeinden) in dreißig Teile: zehn in der Stadt, zehn an der Küste, zehn im Inneren des Landes. Diese Teile nannte er Trittyen (Drittel). Er loste jeder Phyle drei Trittyen zu, damit jede Phyle einen Anteil an allen drei Regionen des Landes habe. (...)
Auf Grund dieser Veränderungen wurde die Verfassung
volksfreundlicher als die Solons; denn die Solonischen Gesetze waren
während der Tyrannis verschwunden, weil sie nicht mehr angewandt
wurden. Kleisthenes erließ neue Gesetze im Interesse der Volksmenge,
darunter auch das über den Ostrakismos."
(Aristoteles,
Athenaion Politeia 21,2-22,2; zit. nach Udo Margedant, Die attische
Demokratie, Frankfurt 1981, S. 30)
Zum Verständnis des klassischen griechischen Staates ist die Erkenntnis entscheidend, dass dieser Staat im Unterschied zu unseren heutigen Staatsvorstellungen ein Personalverband ist und nur ein Personalverband. Der moderne Staatsbegriff geht vom Territorium aus, der moderne Staat ist die politische Organisation eines bestimmten Territoriums, (...) im klassischen Griechenland ist alles höhere geistige und kulturelle Leben an die Gemeinschaft der Bürger, den Staat, gebunden, dieser ist eine ethisch-religiös-politische Einheit, innerhalb derer auch der einzelne seine Einheit als Mensch erlebt. (...) Die griechische Polis ist also der Personalverband ihrer Bürger. Sehr bezeichnend dafür ist, dass es keine automatische Erwerbung des Bürgerrechts, also der Zugehörigkeit zu diesem Verband gibt. Auch der legitime Sohn des Bürgers erwirbt dieses Bürgerrecht nicht einfach durch die Geburt oder die Anmeldung durch den Vater, sondern muss durch formellen Beschluss der Bürgerschaft in diese aufgenommen werden. (...)
Die Idee der bürgerlichen Gemeinschaft hat zur weiteren Folge,
dass alle Bürger am Staatsleben teilnehmen oder teilnehmen sollten,
also die Selbstregierung und darüber hinaus sogar die
Selbstverwaltung. Die Übertragung der Wahrnehmung der politischen
Rechte an gewählte Vertreter, also ein Parlament, ist innerhalb der
griechischen Polis mit ihrer Idee unvereinbar und gibt es nicht,
sowenig wie es ein Berufsbeamtentum gibt. Erst recht ist die
Herrschaft eines einzelnen, Monarchie oder Tyrannis, damit nicht
vereinbar und geradezu die Negierung der Polis; die Bürgerschaft
einer Polis kann nur aus Gleichen und Freien bestehen. Die in
entwickelten Verhältnissen oft zusammentretende Volksversammlung
kann alles und jedes im Rahmen der von ihr selbst aufgestellten
Vorschriften beschließen und regeln, sie gibt nicht nur Gesetze und
wählt die nötigen Beamten und Kommissionen, sondern trifft auch
zahlreiche Entscheide in Einzelfragen der Verwaltung und Regierung.
(...) Eine andere Konsequenz der Vorstellung der unmittelbaren
Selbstregierung der freien Bürgerschaft ist es, dass natürlich
jeder Bürger stets die Zeit und Möglichkeit haben sollte, sich an
verschiedenen Verpflichtungen des staatlichen Lebens zu beteiligen,
dass er nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeiten verhindert sein
sollte, eine Volksversammlung zu besuchen, im Gericht zu sitzen oder
ein Amt zu bekleiden.
(Ernst Meyer, Einführung in die antike
Staatskunde, Darmstadt 1968, S. 68 ff.)
Das Wirrwarr im Gebrauch des Wortes "Demokratie" verdanken wir besonderen Umständen. Zum einen gibt es überhaupt kein allgemein akzeptiertes Verfahren, um die Bedeutung dieses Wortes zu bestimmen. Demokratie läßt sich nicht durch eine Definition bestimmen wie ein Quadrat, wodurch eine Verwechslung mit anderen Polygonen leicht und allgemeingültig verhindert werden kann. Wer die Frage nach dem Wesen der Demokratie zu klären sucht, hat als Richtschnur und Anhaltspunkt nicht ein einziges Schema von einem anerkannten Kommentator, aus dem sich eine orthodoxe Theorie über die Bedeutung des Wortes selber ableiten ließe. Hingegen gibt es eine Menge wissenschaftlicher wie populärer, jahrhundertealter wie neuer Darstellungen der Demokratie. Aber keine aus diesem schier unendlichen Fundus hat irgendwie eine kanonische Stellung erlangt.
Wie kann man also wissen, ob bzw. welcher dieser schillernden Begriffe ein "richtiges" Bild der Demokratie gibt? Wäre es auch denkbar, dass Demokratie nur als Idee, als Phantom besteht, ohne Entsprechung in der Wirklichkeit?
(Aus der Leichenrede [Epitaphios logos] des Perikles 431 v.Chr.)
Die Rede ist ein Konstrukt des antiken Historikers Thukydides
(460 - nach 400 v.Chr.). Leichenreden waren eine öffentliche
Lobpreisung der Kriegsgefallenen, in diesem Falle des
Peloponnesischen
Krieges. Auch wenn Perikles (495/90-429 v.Chr.), der wohl
bedeutendste Politiker Athens in der Mitte des 5. Jahrhunderts
v.Chr., diese Rede nie gehalten haben soll, gibt nach Auffassung
vieler Althistoriker Perikles' Demokratievorstellung wieder.
"Wir leben in einer Staatsform, die die Einrichtungen anderer nicht nachahmt; eher sind wir für etliche ein Vorbild, als dass wir andere uns zum Muster nähmen. Mit Namen wird sie, weil wir uns nicht auf eine Minderheit, sondern auf eine Mehrheit im Volke stützen, Volksherrschaft (Demokratie) genannt. Und es genießen auch alle für ihre eigenen Angelegenheiten vor den Gesetzen gleiches Recht; in der öffentlichen Bewertung jedoch fragt man allein nach dem Ansehen, das sich jemand auf irgendeinem Felde erworben hat, und nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volksteil (phyle), sondern allein die persönliche Tüchtigkeit verleiht im öffentlichen Leben einen Vorzug; auch wird bei Armut keiner, der doch dem Volke Gutes zu leisten vermöchte, um der Geringheit seines Standes willen ausgeschlossen. Ein freier Geist herrscht in unserem Staatsleben und wirkt auch im täglichen Leben und Treiben aller gegenseitigen Beargwöhnung entgegen. (...) (Wir vermeiden) im öffentlichen Leben schon aus Pflichtgefühl Verstöße gegen Recht und Sitte, der jeweiligen Führung gehorsam wie auch den Gesetzen und unter ihnen zumal denjenigen, die zum Schutz der Verfolgten gegeben sind, sowie den ungeschriebenen, deren Bruch in aller Augen Schande bringt. Auch für mancherlei Erholung des Geistes von allen Anstrengungen ist bei uns gesorgt, teils durch die Pflege von Kampfspielen und Festen während des ganzen Jahres, teils durch schöne, jedem offenstehende Anlagen, deren täglicher Genuss den Missmut bannt. Zudem kommt bei der Größe unserer Stadt aus allen Teilen der Erde alles herein, und ebenso wie unsere heimischen Güter können wir die Erzeugnisse der ganzen Welt im eigenen Hause genießen.
Auch in der Pflege des Kriegswesens unterscheiden wir uns von unseren Feinden, und zwar in folgendem: Jedermann hat freien Zutritt zu unserer Stadt, und wir denken nicht daran, es einem durch Ausweisungen zu verwehren, sich bei uns über Dinge zu unterrichten oder sie sich anzuschauen, die, nicht geheimgehalten, vielleicht manchem unserer Feinde nützlich werden könnten. Statt auf die üblichen Vorkehrungen und Schliche verlassen wir uns lieber auf die in uns selber ruhende Entschlossenheit zur Tat. Und mögen in der Erziehung des Kindes die da drüben (gemeint ist der Kriegsgegner Sparta) schon durch anstrengende Übungen von zarter Jugend an mannhaften Geist zu erwerben suchen: wir führen ein Leben ohne Zwang und stellen im Ernstfall doch nicht schlechter unseren Mann. (...)
Wir lieben das Schöne in Schlichtheit, lieben Wissen und Bildung,
aber frei von Weichlichkeit. Reichtum ist bei uns zum Gebrauch in der
rechten Weise, aber nicht zum Geprahle mit Worten da. Armut
einzugestehen bringt keinem Schande, sondern nicht tätig aus ihr
fortzustreben ist schlimmere Schande. In derselben Männer Hand ruht
die Sorge für ihre häuslichen wie auch die öffentlichen
Angelegenheiten, und selbst wer völlig seiner Arbeit lebt, dem fehlt
es doch nicht an Blick für die politischen Dinge. Bei uns allein
nämlich heißt einer, der dem politischen Leben gänzlich fernsteht,
nicht "ungeschäftig", sondern "unnütz", und
selber hat unser Volk in den Fragen der Staatsführung mindestens ein
Urteil, wo nicht gar fruchtbare eigene Gedanken. Denn wir sehen nicht
in einer bedächtigen Vorbesprechung eine Gefahr für die Tat,
sondern vielmehr darin, sich nicht vorher in Beratungen zu belehren,
ehe man das, was Not tut, mit der Tat in Angriff nimmt. (...) Mit
einem Wort sage ich: Unsere Stadt ist im ganzen die hohe Schule
Griechenlands; im einzelnen aber will mir scheinen, dass jeder bei
uns sich gleichzeitig auf den verschiedensten Gebieten anmutig und
mit vollendeter Sicherheit als ganze, auf sich selbst gestellte
Persönlichkeit erweist."
(Thukydides: Geschichte des
Peloponnesischen Krieges, Buch II, Kap. 37 ff.)
(zit. nach:
Geschichte - betrifft uns, 6/88, S. 9)
"Grundlage der demokratischen Staatsform (politeia) ist die Freiheit; man pflegt nämlich zu behaupten, dass die Menschen nur in dieser Staatsform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, dass danach jede Demokratie strebe. Zur Freiheit gehört aber erstens, dass man abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische Gerechtigkeit besteht darin, dass man nicht der Würde, sondern der Zahl (arithmoi) nach die Gleichheit walten läßt; wo diese Gerechtigkeit herrscht, da muss die Menge Herr sein, und was die Mehrzahl billigt, das muss das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich, es sei gerecht, dass jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und maßgebend ist die Meinung der Mehrzahl. Dies ist also das eine Zeichen der Demokratie, das alle Demokraten als Wesenszug dieser Verfassungsform angeben. Ein anderes ist, das man leben kann, wie man will. Sie sagen, dies eben sei die Leistung der Demokratie; denn nicht zu leben, wie man wolle, sei charakteristisch für Sklaven. Dies ist also die zweite Eigenschaft der Demokratie. Von daher kommt denn, dass man sich nicht regieren läßt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei.
Da nun dies vorausgesetzt wird und dies die Regierungsform ist, so
ergibt sich das Folgende als demokratisch: Alle Ämter werden aus
allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise
über alle. Ferner werden die Ämter durchs Los besetzt, entweder
alle oder doch jene, die nicht der Erfahrung und Kenntnisse bedürfen.
Von der Vermögenseinschätzung (Zensus) hängen die Ämter entweder
überhaupt nicht oder nur zu einem minimalen Grade ab. Abgesehen von
den Kriegsämtern darf keiner ein Amt zweimal bekleiden, oder doch
nur wenige Male beziehungsweise in wenigen Fällen; die Dauer der
Amtsführung ist kurzfristig, etc. Dies also sind die gemeinsamen
Eigenschaften aller Demokratien. Aus der Gerechtigkeit, die
anerkanntermaßen als demokratisch gilt (nämlich dass alle der Zahl
nach dasselbe haben), entspringt eben jene Verfassung, die am meisten
demokratisch und volkstümlich zu sein scheint."
(Aristoteles:
Politik 1317 a-b)
Die bekannteste Sicherungsmaßnahme ist wohl der Ostrakismos, das 488/87 erstmals praktizierte Scherbengericht, aus der Furcht vor der Tyrannis bzw. deren Wiederkehr entstanden. Bei dieser speziellen Form der Volksabstimmung musste jeder Teilnehmer den Namen eines Mannes auf ein Tontäfelchen ritzen; der Mann, auf den die meisten Stimmen entfielen, musste für 10 Jahre außer Landes gehen, behielt aber sein Vermögen und alle seine Rechte und Ehren. Es war also nicht eine Strafe für Fehlverhalten, sondern einzig und allein eine politische Zweckmäßigkeit, die den Mann, den man aus dem politischen Leben der Stadt entfernen wollte, nicht härter als nötig treffen sollte. Was gab es schließlich für einen anderen Weg, da bekanntlich periodisch stattfindende Wahlen, die ja auch "Abwahl" bedeuten können, damals fehlten. Der Sinn des Ostrakismos lag also darin, die jeweils stärkere Richtung und ihre Führer in der Regierung zu festigen; Themistokles und Perikles zum Beispiel konnten so über längere Zeit ihre führende Rolle behaupten. Um den Missbrauch und damit politische Instabilität zu verhindern, durfte der Ostrakismos nur einmal im Jahr durchgeführt werden und zwar nach ganz bestimmten Regeln. Die Volksversammlung musste seine Durchführung unter Wahrung einer Frist beantragen; die Abstimmung selbst musste von den neun Archonten und vom Rat geleitet werden, und mindestens 6.000 Bürger mussten daran teilnehmen.
Eine heute seltsam anmutende Einrichtung war das graphe paranomon, ein Verfahren, bei dem ein Bürger angeklagt und einem Prozess unterworfen wurde, wenn er einen gesetzwidrigen Vorschlag in der Volksversammlung eingebracht hatte. Seltsam und paradox zugleich ist dieses Verfahren aus heutiger Sicht, da es die Freiheit der Volksversammlung und ihrer einzelnen Mitglieder schützte, indem es ihnen Immunität und Indemnität (Straflosigkeit) verweigerte.
Eine weitere Sicherungsmaßnahme war die Dokimasie (Prüfung, Untersuchung). Dabei handelte es sich um ein Prüfungsverfahren, bei dem die gesetzliche Qualifikation und die Erfüllung der bürgerlichen und sakralen Pflichten eines Amtsanwärters überprüft wurden. Jeder Beamte, ob gewählt oder gelost, dessen Amtszeit länger als 30 Tage dauerte, musste sich dieser Prüfung unterziehen. Die prüfende Behörde war für die Ratsherren der alte Rat, für die übrigen Beamten ein Geschworenengericht unter der Leitung eines Thesmotheten (Rechtspfleger); die 9 Archonten wurden als einzige sowohl vom Rat als auch von einem Geschworenengericht überprüft. Den Abgewiesenen traf weiter keine Strafe oder anderer Rechtsnachteil, doch war sein Ansehen stark lädiert. Mit der Dokimasie wollte man weniger die mangelnde Eignung einer Person als vielmehr deren charakterliche und intellektuelle Mindestvoraussetzung überprüfen. Sie sollte in einer Zeit, als es zu einer Vermassung des öffentlichen Dienstes (unter Kleisthenes) kam, verhindern, dass Personen mit charakterlichen und geistigen Schwächen den öffentlichen Dienst belasteten; man kann sie sogar als eine Attestierung politischer Zuverlässigkeit und Linientreue sehen, denn die isonome, demokratische Gesellschaft brauchte "passende" Bürger, um die Erhaltung der politischen Ordnung zu garantieren.
Die Euthyna, die Rechenschaftsablegung der Amtsinhaber Athens nach Ablauf ihrer Amtszeit, war eine weitere Sicherungsmaßnahme. Sie verlief in zwei Stufen. In der ersten und wichtigeren hatte der abgetretene Beamte vor den sogenannten Logisten (Rechnungsprüfer) über die ihm anvertrauten Gelder Rechenschaft abzulegen, was dann von einem Geschworenengericht überprüft wurde. Dabei konnten dann etwaige Klagen von Privatpersonen oder Vertretern des Staates, den sog. synegoroi (Staatsanwälte) vorgebracht werden. Die zweite Stufe der Rechenschaft war 10 Rechenschaftsbeamten des Rates (euthynoi) und deren 20 Helfern anvertraut. Sie betraf die allgemeine Amtsführung und trat nicht automatisch wie die erste, sondern lediglich auf Antrag eines Bürgers, ein.
Zu guter Letzt sei auf eine nicht minder wirkungsvolle und oft genutzte Möglichkeit der Kontrolle verwiesen, die in der Aufforderung an alle Bürger, Unregelmäßigkeiten der Amtsführung zur Anzeige zu bringen, bestand. Dieser Aufruf zur Beschwerdeführung war zusätzlich dadurch fest in den geschäftlichen Ablauf eines Amtsjahres eingebettet worden, dass in der ersten Volksversammlung jeder Prytanie (Ratsperiode), also zehnmal im Jahr, dem Volk die Frage vorgelegt wurde, ob die Beamten ihr Amt gut verwaltet hätten. Wurde Kritik dabei laut oder ging die Abstimmung gar zu Ungunsten des Beamten aus, wurde dieser sofort seines Amtes enthoben und vor Gericht gestellt.
Aristides führte den Demokratieprozess in seine nächste Stufe, indem er ein breites athenisch-attisches Beamtentum schuf. Den untersten Klassen wurde ein passives Wahlrecht für alle hohen Ämter außer dem Archontat zugebilligt. Außerdem erhielt das Kleinbürgertum (demos) erstmalig eine seiner Zahl angemessene politische Verantwortung, indem untere Beamtenkategorien durch das demos (Kleinbauern, Handwerker) besetzt wurden. Unter Aristides fand der Begriff Demokratie erstmals eine konkrete Anwendung, was auch mit der Wortbedeutung verbunden war: Volksherrschaft: (gr.) kratia (Herrschaft) des demos (Dorfbewohner/Volk). Diese Anwendung wurde insbesondere durch die "demokratischen" Beschlüsse der Volksversammlung deutlich und ging einher mit einem Machtverlust der Grundherren und der steigenden ökonomischen Herrschaft der Unternehmer und Kaufleute.
Ephialtes Ziel war um 460 v. Chr. die Entmachtung der aristokratischen Magistrate (Archonten, Areopag); um dies zu erreichen, verteilte er die Kompetenzen des Areopags als höchste "staatliche Aufsichtsbehörde" auf den Rat der 500, die Volksversammlung und die Gerichte. Der Adel und die Großgrundbesitzer verloren durch eine faktische Aufhebung des Archontates an politischem Einfluss, während das Bürgertum gestärkt wurde. Die nun sich entwickelnde Allianz von Groß- und Kleinbürgertum drückte sich insbesondere in der Tatsache aus, dass nach dem Tod des Ephialtes 457 v. Chr. auch Bauern ins Archontenamt gewählt werden konnten.
Perikles trat -462/1 an die Spitze des Demos von Athen. Er entzog gemeinsam mit Ephialtes dem Areopag das Aufsichtsrecht über Verwaltung und Beamte und übertrug es dem Rat (Boulé) der Fünfhundert, die Volksversammlung (Ekklesia) und die Volksgerichte. Er führte die Besoldung von Rat und Gerichten ein, und erweiterte das Wahl- und Kandidaturrecht für das Archontat auf die 3. Klasse (Zeugiten, freie Bauern).
Perikles wird -443/29 jährlich zum Strategen (Feldherrn) wiedergewählt. Unter seiner Führung erreichte Athen die Vormachtstellung im Attischen Seebund. Nach den Perserkriegen wollte er den Bund in ein Attisches Reich umwandeln. Der Bund wurde in 5 Steuerkreise eingeteilt, und alle Städte mussten die attische Demokratie einführen. Abfallende Städte wurden zurückerobert.
Perikles erreichte einen fünfzehnjährigen Frieden mit Sparta, der aber nach seinem Tode wieder zerbrach.
Unter der Führung des Perikles wurde der Demokratisierungsprozess um 450 v. Chr. durch die Volkspartei erstmals eingeschränkt, und zwar vor allem aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums. Das Bürgerrecht wurde nur an männliche Personen vergeben, deren Eltern beide Vollbürger waren. Und dennoch äußerten sich die politischen Rechte unmittelbarer als in der heutigen modernen parlamentarischen Demokratie - zu bedenken ist dabei jedoch immer, dass nur zehn Prozent der Athener überhaupt politische Rechte besaßen. Perikles war es auch, der Diäten (Tagegelder) für Beamte einführte, womit die ständige Fluktuation in der Politik gehemmt wurde und ein Berufspolitikertum entstand.
Das politische Gewicht der verschiedenen Soldzahlungen war
unterschiedlich hoch. Der Richtersold wird in allen Quellen als ein
besonderes Charakteristikum der Demokratie angesehen, und der
Eindruck, den die an den meisten Tagen des Jahres zu den
Gerichtssitzungen strömenden Athener hinterließen, hat dieses
Urteil ohne Zweifel mitgeprägt. Der ganze Demos erscheint
Aristophanes
wie ein einziger Richter, das Richten ein Fundament der
demokratischen Idee, und in der Tat tritt darin die Vorstellung von
der Regierung und der Herrschaft aller über alle am deutlichsten
hervor. Auch der Ratsherrensold, der einem breiten Kreis von Bürgern
die allgemeine Aufsicht über die Beamten und die Regie über die
Versammlungen des Volkes sicherte, hatte deswegen großes Gewicht,
weil durch ihn der verbleibende und nicht weiter auflösbare Teil der
Regierungsgewalt in der Hand aller blieb. Das Schaugeld scheint
demgegenüber stärker mit dem Gedanken der Versorgung von
Unbemittelten verbunden, jedenfalls seine politische Rolle nicht so
deutlich gewesen zu sein. Ganz unabhängig von der politischen
Bedeutung der Soldzahlungen war indessen deren Gewicht für den
einzelnen Bürger. Für ihn ging es nicht nur um die Demonstration
demokratischer Gesinnung, sondern auch darum, was der Sold ihm
brachte und in welchem Umfang ihn der mit ihm verbundene Dienst
belastete. Denn die politische Tätigkeit war freiwillig und darum
die Bevorzugung dieser und der Verzicht auf jene Aktivität oft von
anderen als politischen Interessen bestimmt. Die richterliche
Tätigkeit hatte nun ohne Zweifel die größte Anziehungskraft, und
dies aus mehreren Gründen. Sie konnte man beliebig oft ausüben,
bedeutete darum für Personen, die keine Arbeit hatten oder aus
Altersgründen von ihr freigestellt waren, einen erheblichen Gewinn
und vermochte unter Umständen sogar eine fehlende wirtschaftliche
Existenzbasis zu ersetzen. Der Dienst war ferner nicht schwer,
verschaffte darüber hinaus Ansehen und vermittelte ein Gefühl von
Macht. Wenn uns Aristophanes in den "Wespen" glauben machen
will, dass das ganze Volk fast jeden Tag zu Gericht sitzt, geht das
gewiss nicht ganz an der Wahrheit vorbei. Schließlich hatte man als
Richter auch die Freiheit, an einem Tag zu kommen, an einem anderen
fernzubleiben; denn die Prozesse wurden alle an demselben Tag
abgeschlossen, an dem sie begonnen hatten. Das Richten war eine
Tätigkeit für einen einzelnen Tag, und so konnte jeder sie nach
Belieben in seine persönlichen Geschäfte eingliedern. Der Ratsherr
hatte es demgegenüber schwerer. (...)
(Jochen Bleicken, Die
athenische Demokratie, Paderborn 1988, S. 239)
Der Charakter und die Bedeutung der Losung für die Demokratie wird aus dem (von Kleisthenes eingeführten) Losverfahren deutlich. Zunächst einmal erfolgte die Losung unter Berücksichtigung aller lokalen Bezirke Attikas, wodurch das Übergewicht der beiden Siedlungszentren Athen/Piräus, wenn nicht ausgeschlossen, so doch wesentlich eingeschränkt wurde. Man loste entweder nach Phylen oder nach Demen. Hatten sich nicht genügend Kandidaten eines lokalen Bezirks für die zu erlosenden Ämter gemeldet, füllten Kandidaten anderer Bezirke die Lücke; das ist zumindest für die Bestellung der Ratsmitglieder, für die manche Demen nicht immer ihre oder ihren Kandidaten aufzustellen vermochten, sicher belegt. Der gelegentliche Kandidatenmangel verweist auf ein weiteres Prinzip: Die Kandidatur war freiwillig; es gab keinen Zwang zur Übernahme einer öffentlichen Tätigkeit. Die Verzerrungen, die sich daraus für die lokale und soziale Repräsentation der politisch Berechtigten ergaben, zeigen, dass auch die Losung und die Rotation der Ämter, mochten sie noch so perfektioniert sein, die Dissonanz von politischer Idee und Wirklichkeit nicht völlig zu überbrücken vermochten. (...)
Es zeugt von der Bedeutung, die die Athener der Losung beimaßen, dass sie darum das Verfahren in einem auch für heutige Verhältnisse erstaunlichen Umfang rationalisierten und perfektionierten. Die Schnelligkeit und Übersichtlichkeit des Verfahrens sowie der Schutz gegen Unregelmäßigkeiten oder Irrtümer wurden vor allem durch die Erfindung von Losmaschinen (!) erreicht...
In älterer Zeit war das Los ein Mittel zur Feststellung des
göttlichen Willens gewesen, und im religiösen Bereich ist es auch
in jüngerer Zeit noch als Gottesurteil verwendet worden. Im profanen
Bereich hingegen steht hinter seiner Anwendung, auch wenn in dem
Sinne von Zufall oder Schicksal gegebenenfalls ein stark
abgeschwächtes religiöses Element mitspielen mochte, von Anfang an
ein konkreter politischer Gedanke: die Ausschaltung der persönlichen
Autorität
aus der Regierung.
Die mit der Losung verbundene politische
Absicht beherrschte bereits die Anwendung des Loses für die
Bestellung der Archonten im Jahre 487/86, in der das Los bewusst als
Instrument zur Schwächung einer althergebrachten Institution
eingesetzt wurde. Der gleiche Gedanke steht hinter der nur wenige
Jahre vorher durchgesetzten Phylenordnung des Kleisthenes, die durch
die Zusammenfassung von jeweils verschiedenen Landschaften zu zehn
lokalen Phylen jegliches ökonomische Sonderinteresse aufhob und
damit die Beamten und Ratsmitglieder, die nach diesen neuen lokalen
Einheiten bestellt wurden, "gleichschaltete". Der Sinn der
Losung liegt in Athen immer darin, persönliche Autorität aufzuheben
bzw. ihr Entstehen im vorhinein zu verhindern. Es ist klar, dass die
Athener mit dieser Absicht gegen allzu ehrgeizige, möglicherweise
sogar nach der Tyrannis strebende Häupter der großen
aristokratischen Familien zielten, gegen die sie während und nach
der Vertreibung der Peisistratiden (Anhänger des Tyrannen
Peisistratos),
also gerade in diesen Jahrzehnten der Reformen im Kampf lagen. Die
Losung als ein demokratisches Prinzip ist ein Produkt des Ringens mit
dem politisch aktiven Teil des Adels um eine isonome Gesellschaft.
(...)
Der Grundsatz der Losung wirft Licht auf den Charakter des
demokratischen Gedankens in Athen. Denn so sehr er durch die
Beschränkung der Macht der an der Regierung Beteiligten einem
heutigen Verständnis von Demokratie begegnet, befremdet er doch
gleichzeitig durch den Umfang seiner Anwendung. Denn es wird durch
den allseitigen Gebrauch der Losung nicht nur jede potentielle
persönliche Autorität und jeder Machtmissbrauch ausgeschaltet, es
wird auch der Wille des Souveräns
eingeschränkt: Die Menge kann bei Anwendung des Losverfahrens nicht
durch Mehrheitsentscheid den Mann ihrer Wahl bestimmen, und
desgleichen werden viele andere Einzelentscheidungen, wie die
Bestimmung der Reihenfolge, in der über irgendwelche Personen,
Gruppen oder Gremien abgestimmt werden soll, vom Los getroffen. Die
Menge hatte durch das Prinzip der Losung zwar für sich gesorgt - das
Los konnte jeden Beliebigen aus dem Demos treffen -, aber in diesem
"Für-sich-Sorgen" hatte sie auch ein für alle Mal ihren
Willen begrenzt. Das, was nach Umfang und Bedeutung heute das
wichtigste Geschäft in der Demokratie darstellt, die Wahl von
Personen, sahen die Athener nicht als einen demokratischen Wert an.
Gewählt wurde nur, wenn es aus sachlichen Gründen unausweichlich
war, und das heißt: gegen den Sinn der hinter der politischen
Ordnung stehenden Idee. Man wird die athenische Demokratie nicht
verstehen können, wenn man nicht begreift, dass den Athenern die
Ausschaltung der persönlichen Autorität wichtiger war als die
Möglichkeit, ihnen erwünschte Personen zu wählen und unerwünschte
abzulehnen oder abzuwählen. Die durch das Los gegebene quantitative
Gleichheit hatte für sie einen höheren Rang als die Qualifikation
der Person.
(Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie,
Paderborn 1988, S. 218 ff.)
Die athenischen Bürger sahen keine Gefahr oder auch nur
Benachteiligung in der Sklavenarbeit, solange sie sie direkt oder
indirekt (...) ausbeuten konnten, und das taten sie ja auch. Im
vierten Jahrhundert wurden sie eine Klasse von Rentiers, die von
ihrem unverdienten Einkommen lebten und körperliche Arbeit als eine
Beschäftigung ansahen, die sich nur für Barbaren
und Sklaven zieme. Natürlich waren sie sich dessen nicht bewusst,
dass diese Mentalität
eine Sklavenhaltermentalität war. Im Gegenteil, sie beriefen sich
auf die augenscheinliche Wahrheit, dass es infolge der inferioren
(minderwertigen) Natur des Sklaven in seinem eigenen Interesse lag,
als Sklave behandelt zu werden. (...) Die athenische Wirtschaft
beruhte auf Kleinproduktion, und daher kann scheinbar die
Sklavenarbeit in ihr keine große Rolle gespielt haben. (...) In
Wirklichkeit waren die griechischen Stadtstaaten, die sich in
Übereinstimmung mit den neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der
Produktivkräfte, vor allem der Eisenverhüttung und der Münzprägung,
entwickelt hatten, gerade weil sie auf der Kleinproduktion beruhten,
während der Demokratie imstande, die Sklavenarbeit in alle
Produktionszweige einzuschmuggeln und dadurch die Illusion zu
schaffen, sie sei ein Naturgesetz. Damals hat sich die Sklaverei der
Produktion ernsthaft bemächtigt
(George Thomson, Die ersten
Philosophen, Berlin 1961, S. 168 f.)
In den großen "klassischen" Zeiten, also in Athen und
anderen griechischen Stadtstaaten vom 6. Jahrhundert v.Chr. an und in
Rom und Italien vom frühen 3. Jahrhundert v.Chr. bis zum 3.
Jahrhundert n.Chr., ersetzte die Sklaverei in wirksamer Weise andere
Formen abhängiger Arbeit. (...) Ein Antrieb für Sklavenbesitz war
das Anwachsen der städtischen Produktion, für die die
traditionellen Formen abhängiger Arbeit sich nicht eigneten. Auf dem
Lande erreichte die Sklaverei beachtliche Durchbrüche überall dort,
wo das Helotensystem
(spartanisches Sklavensystem; Sklaven kein persönlicher Besitz,
sondern in Besitz des Staates) oder vergleichbare Formen von
Arbeitsstatus aus irgendwelchen Gründen nicht in dem Umfang
weiterbestanden, der zur Deckung des Bedarfs der Landbesitzenden
erforderlich war (was z.B. in Sparta nicht der Fall war). Das heißt,
angesichts des fehlenden freien Arbeitsmarktes wurden Sklaven als
Arbeitskräfte von außen herangebracht - denn Sklaven kommen in
erster Linie von außen -, aber nur, wenn die vorhandenen
inländischen Arbeitskräfte nicht mehr ausreichten, wie in Athen
nach den Reformen Solons. (...) Wenn wir (...) uns auf die großen
"klassischen" Perioden in Griechenland und Italien
konzentrieren, so sehen wir uns den ersten wirklichen
Sklavenhaltergesellschaften der Geschichte gegenüber, die umgeben
sind von Gesellschaften (oder in sie eingebettet), die auf anderen
Formen abhängiger Arbeit basieren. Keineswegs kann man das in klare
quantitative Begriffe umsetzen. Zu keiner Zeit kennen wir die Zahlen
der Sklaven in Griechenland oder Italien.
(Moses I. Finley, Die
antike Wirtschaft, München 1977, S. 73 ff.)
Die Gerichtsverfahren waren wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht von Berufsrichtern geführt wurden; das heißt, obgleich es sehr wohl bestimmte Verfahrensregeln wie auch materielle Gesetze gab, war der vorsitzende Richter einer der jährlich durch das Los bestimmten städtischen Beamten. Von den Parteien wurde erwartet, dass sie in der immer mündlich geführten Verhandlung - auch einschlägige Dokumente wurden als Beweisstücke verlesen - ihre Sache selbst vertraten, wenngleich sie sich bei der Vorbereitung des Prozesses der Hilfe eines erfahrenen Gerichtsredners bedienen durften. Das Gericht kam sodann - gewöhnlich im Lauf einer eintägigen Sitzung - durch Mehrheitsbeschluss, der ohne weitere Aussprache in einer vor aller Augen vorgenommenen geheimen Abstimmung herbeigeführt wurde, zu einem Urteilsspruch. Im Prinzip war das Verfahren bei Fällen, in denen der Staat Partei war, und in privatrechtlichen Streitsachen identisch. Einen Regierungsapparat, der einen Bürger - zum Beispiel wegen eines Religionsfrevels - hätte vor Gericht ziehen müssen, gab es nicht; die Einreichung einer Klage war Aufgabe (und sogar Pflicht) irgendeines Bürgers, der willens war, sich dieser Sache anzunehmen, und der die Klage dann genau so führte, als handele es sich um einen privatrechtlichen Streitfall etwa über einen Vertrag.
Bei bestimmten Arten von bedeutenderen, den Staat betreffenden Prozessen saß die Volksversammlung selbst zu Gericht, gewöhnlich aber wurden große Gerichtshöfe einberufen, die durch das Los aus einer stehenden Geschworenenliste von 6.000 Bürgern, die als freiwillige Kandidaten von der Volksversammlung in diese Funktion gewählt worden waren, besetzt wurden. (Beim Sokrates-Prozess umfasste das Gremium 501 Richter.) Wir können nicht behaupten, dass die Geschworenengerichte einen vollkommen zufällig zusammengesetzten Querschnitt durch die Bürgerschaft darstellten - es mag ein unverhältnismäßig hoher Anteil von Stadtbewohnern, von älteren Männern oder von den sehr armen Bürgern, denen der gleichwohl deutlich unter dem täglichen Mindesteinkommen eines Arbeiters liegende Richtersold willkommen war, in ihnen vertreten gewesen sein. Gleichwohl ist es verständlich, dass die Athener die großen aus einer Geschworenenliste von 6.000 Mann (die gesamte Bürgerschaft belief sich auf etwa 40.000 - 45.000) ausgelosten Gerichtshöfe als ausreichend repräsentativ ansahen, um als der handelnde 'demos' selbst zählen zu können. Hierin lag auch die eigentliche Logik der 'graphe paranomon', in der Auffassung nämlich, dass durch dieses Verfahren eher der 'demos' selbst einen Antrag überprüfe, statt dass eine Regierungsgewalt, die Judikative, die Maßnahmen einer anderen, der Legislativen, revidierte.
Überdies lag hierin ein sehr tiefer Unterschied gegenüber
unserer Auffassung vom Gerichtswesen. Die Rolle der
Geschworenengerichte als des 'demos pars pro toto' setzte im Hinblick
auf die Urteilsfindung eine politische Bewusstheit und eine
entsprechende, uns ganz unvorstellbare geistige Weite und
Bewegungsfreiheit voraus. Als Sokrates im Jahre 399 vor Gericht
gezogen wurde, wäre es nicht nur unmöglich gewesen, 501 Bürger
ausfindig zu machen, die über ihn und seine Aktivitäten kaum etwas
wussten oder wenigstens glaubten, kaum etwas zu wissen, und die in
dem einen oder anderen Sinne keine vorgefassten Meinungen über ihn
hatten, sondern es wäre auch niemandem in den Sinn gekommen, dass
freundliche Unkenntnis und sachliche Toleranz
wünschenswert seien. Was in der Einschätzung des Gesetzes und des
vorgeführten Beweismaterials erwartet wurde, waren
verantwortungsbewusster Bürgersinn und unvoreingenommene
Ehrenhaftigkeit, und von jedem Bürger wurde eben angenommen, dass er
diese Eigenschaften besitze, gleich ob er zu Gericht saß oder der
Volksversammlung oder dem Rat beiwohnte.
(Moses I. Finley, Antike
und moderne Demokratie, Stuttgart 1980, S. 82 ff.)
Im Peloponnesischen Krieg verfiel die Demokratie, wie von Aristoteles berichtet wird. Standeskämpfe flammten auf und 411 v. Chr. wurde die Demokratie abgeschafft und durch eine Oligarchie ersetzt. Es wurde ein Rat der Vierhundert gebildet und die Volksversammlung bestand nur noch aus 5.000 besitzenden Bürgern.
Erst 403 v. Chr., nach Kriegsende, stellte die Volkspartei unter Thrasybulos die Demokratie wieder her:
Mitglieder der Volksversammlung konnten demnach alle volljährigen, männlichen Vollbürger werden.
Der Rat der 500 führte die Vorberatungen durch, die der Volksversammlung dann zur Abstimmung vorgelegt wurden; er hatte darüber hinaus die Aufgabe, öffentliche Behörden zu kontrollieren.
Endgültig per Losverfahren wurden nun die neun Archonten ermittelt.
Der Areopag war nicht mehr nur adlig, und hatte nun als eine Art Verfassungsgericht eine Kontrollfunktion über die Demokratie inne.
Die früheste Belegstelle des Begriffes Demokratie ist in den
"Historien"
des Herodot zu finden. Er führt auch die klassischen
Herrschaftsformen Monarchie, Oligarchie und Demokratie ein. Die für
ihn entscheidenden Merkmale der Demokratie sind die Bestimmung der
Regierung per Losentscheid, die Verantwortlichkeit der Regierung
gegenüber der Volksversammlung und die ausschließlich legislative
Kompetenz
der Volksversammlung.
Seit Herodot wurde Demokratie als
Gattungsbegriff für all jene Staatsformen benutzt, in denen das
Bürgertum und die unteren Klassen am politischen
Entscheidungsprozess und der Verwaltung teilnehmen; von nun an hatte
der Begriff auch eine staatstheoretische Bedeutung.
Platon unternahm mehrere erfolglose Versuche der aktiven politischen Mitgestaltung; er wollte der Politik eine philosophische Prägung geben. Die Verurteilung seines Lehrers Sokrates (-399) ließ ihn kritisch und ablehnend der attischen Demokratie gegenüber werden. Sein Ziel war es, die Philosophie Politik werden zu lassen; aktiv ist ihm das zwar nie gelungen, doch durch seine Schüler hatte die platonische Lehre eine tiefe Wirkung auf die Aristokratie Athens. In seinen drei bedeutendsten Werken "Der Staat" (Politeia), "Der Politiker" (Politikos) und "Die Gesetze" (Nomoi) beschrieb er zwei positive Formen der Staatsverfassung:
Philosophenkönigtum, Aristokratie (Herrschaft der Besten, eines Gesinnungs- und Bildungsadels)
Monarchie (Herrschaft des Besten, Königtum)
Demgegenüber setzte er vier negative, verwerfliche Formen:
Oligarchie (Herrschaft weniger Wohlhabender)
gesetzlich-gemäßigte Demokratie
anarchisch-despotische Demokratie
die quasi auf dem Wege der Degeneration gesetzmäßig ineinander
übergehen. Aus dem in der Oligarchie herrschenden Klassenkampf kann
eine Demokratie entstehen.
"Eine Demokratie also entsteht,
denke ich, wenn die Armen den Sieg davontragen und von der
Gegenpartei die einen hinrichten lassen, die anderen verbannen und
den übrigen Bürgern gleichen Anteil an der Staatsverwaltung und an
den Ämtern geben..." Das Schlagwort der Demokratie ist
Freiheit. "Vor allem sind die Leute frei, und die ganze Stadt
hallt wieder von Freiheit und unbeschränkter Meinungsäußerung, und
jedermann darf hier tun, was er will... Und dass man so gar nicht
gezwungen ist, an der Regierung teilzunehmen, auch wenn du noch so
geschickt dazu bist, noch zu gehorchen, wenn du nicht Lust hast, und
ebensowenig, wenn die anderen Krieg führen, auch mitzutun, oder
Frieden zu halten, wenn die anderen ihn halten, du aber keine Lust
dazu hast, ist das für den Augenblick nicht eine göttliche und
höchst vergnügliche Daseinsweise? Diese und ähnliche wären also
die Eigenschaften der Demokratie, und sie ist demnach eine
vergnügliche Verfassung, ohne Regierung, buntscheckig, und verteilt
eine angebliche Gleichheit gleichermaßen an Gleiche und
Ungleiche..."
Wie sieht der Mensch aus, der dieser Verfassung entspricht? Müssen
nicht Zügellosigkeit und allgemeine Auflösung um sich greifen? Wie
soll man die Jugend erziehen, wenn alle gleich und alle gleich frei
sind? "Der Lehrer zittert unter solchen Verhältnissen vor
seinen Schülern und schmeichelt ihnen; die Schüler aber machen sich
nichts aus den Lehrern... Und überhaupt stellen sich die Jüngeren
den Älteren gleich und treten mit ihnen in die Schranken in Worten
und Taten; die Alten aber setzen sich unter die Jugend und suchen es
ihr gleichzutun an Fülle des Witzes und lustigen Einfällen, damit
es nämlich nicht das Ansehen gewinne, als seien sie missvergnügt
und herrisch. Schamhaftigkeit nennen sie Dummheit und stoßen sie in
ehrlose Verbannung, Besonnenheit heißen sie Unmännlichkeit,
beschimpfen sie und jagen sie hinaus; Mäßigkeit aber und häusliche
Ordnung stellen sie als bäurisches und armseliges Wesen dar... "
(Hans Joachim Störig, "Kleine Weltgeschichte der
Philosophie", 1992 Fischer Taschenbuch)
Aristoteles war ein Schüler Platons. Sein staatsphilosophisches Hauptwerk ist die "Politik". Aristoteles war liberaler als Platon: Seine Verfassungslehre kennt zwei elementare Herrschaftszwecke, nämlich die gute Herrschaft, die das Wohl des Beherrschten erstrebt, während sich die schlechte der Beherrschten zum eigenen Nutzen bedient. Darauf stützt sich auch sein Schema der Verfassungsformen:
Zu jeder dieser Formen gehört eine gute und eine schlechte Variante:
Gut |
Schlecht |
|
1. |
Monarchie |
Tyrannis |
2. |
Aristokratie |
Oligarchie |
3. |
Politie |
Demokratie |
Die Politie (Bürgerstaat) stellt für Aristoteles die beste Verfassungsform dar: Während die Demokratie bei ihm die Herrschaftsform der Vielen zum Nutzen des Pöbels ist (Ochlokratie), steht die Politie für die Herrschaftsform der Vielen zugunsten des Gemeinwohls: "Im Gegensatz zur Politie ist die Demokratie eine Herrschaft zum Nutzen der Armen und Unbemittelten. Eine Demokratie besteht dann, wenn nicht die Besitzenden, sondern die Armen regieren".
Aristoteles lehnt die Demokratie ab, sieht in ihr jedoch immer noch eine bessere Herrschaftsform als etwa in der Oligarchie oder der Tyrannis. Er stufte die Demokratie in vier Unterformen ab:
Die Masse der Armen herrscht zum eigenen Nutzen und Vorteil, übt alle Gewalten und Ämter aus. Es existiert keine Verfassung, da Despoten an die Macht kommen und Gesetze abschaffen; die reinste Demokratie hebt sich früher oder später selbst auf.
Keine Diäten in der Volksversammlung mehr, daher Beamte als Vertreter der herrschenden Klassen mit Entscheidungsgewalt.
Abstammung und Steuereinschätzung (Zensus) ist Grundlage für die Ausübung eines politischen Amtes. Dies kommt der Realität zur Zeit des Aristoteles am nächsten.
Politische Rechte allein für Grund- und Vermögensbesitzer, untere Schichten sind nur in der Volksversammlung repräsentiert. Diese Form der Demokratie wird durch Vermischung mit Politie bzw. Aristokratie aufgehoben.
Seine Demokratietheorie, die erstmals nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch zustandekam, hatte die Funktion, die Demokratie durch Vorschläge zu ihrer "Vervollkommnung" ihrer Aufhebung zuzuführen.
Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn u.a. 1994².
Guggenberger, Bernd: Demokratietheorie; in: Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 1, Politikwissenschaft, München 1987, S. 130-139.
Mittermaier, Karl und Meinhard Mair: Die Geburtsstätte der Demokratie? Athen; in: Demokratie. Die Geschichte einer politischen Idee von Platon bis heute, Darmstadt 1995, S. 5-36.
Hans Joachim Störig, "Kleine Weltgeschichte der Philosophie", 1992 Fischer Taschenbuch